438 km Sommerferien: Von Leipzig an die Ostsee.
„Papa gibt uns jedes Jahr so eine Auswahl an zwei oder drei Urlaubsorten vor, von denen wir uns einen aussuchen dürfen. Diesmal stand ein Fahrradurlaub an die Ostsee oder mit dem Zug in die Ukraine zum Wandern auf dem Plan. Dann haben wir uns schnell für die Reise an die Ostsee entschieden“, erzählt Niels und sein Papa Michael ergänzt: „Aber ich habe gesagt, wenn wir mit dem Rad fahren, dann aber auch komplett“. Die Route steht. Von Leipzig soll es bis nördlich von Lübeck nach Scharbeutz gehen. Das Ziel ergibt sich aber über den Elbe-Havel- und Elbe-Ostseekanal von ganz allein. Einfach am Wasser entlang bis das große Meer vor ihnen liegt. Für 438 km sitzen Micha, Niels und Pauline elf Tage lang im Sattel. Bis nach Wittenberg und zwischendrin für eine Tagestour setzen sie kurz auf die Regionalbahn, um die Bummeltage wieder herauszuholen, erzählt Micha. Ansonsten wären sie auf die gesamten 500 km Radstrecke gekommen. Doch das Schöne an den großen Sommerferien ist ja schließlich, dass einen niemand unter Druck setzt und die Zeit nur so verfliegen kann. Es gibt nur einen Startpunkt A und einen Zielpunkt B. „Was dazwischen passiert, werden wir sehen“, sagt Micha. Im Schnitt fahren die 9-jährige Pauline und ihr 12-jähriger Bruder 40 km am Tag und an ihrer Höchsttour sogar 52 km. Da ist Niels ganz genau in der Kilometerangabe. In der Vorbereitungszeit war es für Papa Micha besonders wichtig, dass die Kids mit leeren Rädern fahren, sprich, dass sie bis auf ihre Trinkflaschen und einen Helm kein zusätzliches Gepäck tragen müssen und während der Fahrt auch Quatsch machen können. „Damit war es auch schaffbar!“, erzählt er, während er zu seinem Lastenrad schaut, dass er gemeinsam mit einem Freund aufgebaut hat. Decken. Kochzeug. Schlafzeug. Zelt. Klamotten. Regensachen. Notfallausrüstung. Knapp 80 kg plus Eigenwicht kommen für die dreiköpfige Familie zusammen. Völlig befreit vom Alltag und bei bestem Wetter startet die Familie ihre kleine Tour an der Elbe und wird direkt nach den ersten, fünf Kilometern gebremst, denn Niels hat schon den ersten Platten. Witzigerweise aber auch den letzten der gesamten Tour. Ab jetzt verbringen sie ihre Zeit draußen in der Natur, unter dem freien Himmel und im Zelt. Abends wird Holz gesucht, auf Steinplatten Nudeln oder Omelett gekocht, bei einem klaren Nachthimmel, sogar ohne Überzelt geschlafen und völlig wild gecampt, wenn gerade kein Campingplatz in Sicht war. Bei Kerzenlicht packen die Kids allabendlich ihre Bücher aus, schmökern in der Hängematte, während Papa Micha das Nest für den Abend vorbereitet oder auch die Füße bei einem Radler hochlegt. Was für ein Abenteuer!
Von Wittenberg geht es also weiter nach Dessau, Magdeburg, Tangermünde, Havelberg, zum Storchendorf Rühstädt, Wittenberge, Hitzacker, Mölln, Ratzeburg bis nach Lübeck. Nicht einmal die zwei Regentage können die Laune trüben. Einfach die Regenjacken überziehen und weiter. Micha achtet während dieser Reise ganz genau auf seine stolzen Radfahrer, denn sobald er merkt, dass die Erschöpfung zu groß werden könnte oder es einfach nicht mehr weitergeht, wird eine Ruhepause mit Badespaß eingelegt oder tandemmäßig kurz mit einem Gummiseil gezogen. Die mit Wasser gefüllte Sprühflasche kommt auch gern mal zum Einsatz, wenn eine Abkühlung nötig ist. Am Zielort angekommen, freut sich besonders Pauline über das Baden in der Ostsee und den Strand. Beine ausstrecken und nicht mehr Fahrradfahren, heißt es jetzt. Für den Rückweg wollte Papa Micha eigentlich mit der Regionalbahn zurückfahren und die gesamte Tour auf entspanntem Wege nochmal Revue passieren lassen aber tatsächlich war es schier nicht umsetzbar mit dem gesamten Gepäck, den Kindern und dem großen Lastenfahrrad auf die Bahn zurückzugreifen. Ein kleiner Dämpfer für den leidenschaftlichen Fahrradfahrer. Da er das Risiko, mit dem Rad aus dem Zug verwiesen zu werden, nicht eingehen wollte, musste letztendlich ein Kleinbus als Alternative herhalten. Doch das ist nicht entscheidend für ihre Reise. Niels, Pauline und Micha haben ihre Sommerferien in der Natur verbracht. Sie erinnern sich an wolkenlose Nächte, Geburtstage auf Minigolf-Plätzen, abgeschnittene Fingerkuppen, Hüpfburgen auf Campingplätzen, gemeinsame Touren mit neuen Freunden, die sie unterwegs kennenlernen, Zelt aufbauen im Regen, das Klappern der Störche, Fledermäuse, wilde Füchse und Rehe, die ihren Weg passierten, kleine Krabben, Lagerfeuer, Schmiere an den Beinen und zwischendurch ganz viel Eis.
105€ haben die Drei im Vorfeld gesammelt und es als ihr „Eis-Geld“ deklariert. Das durfte komplett verbraten werden. Für Micha hingegen lässt die Reise kaum an einem besonderen Ereignis festmachen. „Tatsächlich war es für mich besonders zu sehen, wieviel Spaß sie an dieser Tour gehabt haben. Wie selbstständig sie plötzlich geworden sind, wie sie zum Beispiel das Zelt aufbauen oder für unseren Holzkocher Stöckchen gesammelt haben. Ein paar Tränen in den Augen hatte ich als wir in Scharbeutz ankamen und nach einer Kurve direkt das Meer erblickten. Wie beide plötzlich still wurden und ehrfürchtig aufs Wasser sahen. Wir sind da und plötzlich ist alles abgefallen“, erinnert er sich. Sie sind angekommen und wissen, dass sie über 400 km aus eigener Kraft hinter sich gebracht haben. Micha platzt vor Stolz. Neue Ideen für die kommenden Sommerferien haben sie jetzt schon. In den Sattel wollen sie sich am liebsten wieder setzen. Aus einer besonderen Verbindung heraus könnte das knapp 1700 km entfernte Odessa auf der Liste landen. Aber noch ist viel Zeit... vor allem auch, um neues Eis-Geld für die Reise zu sammeln."