Eine Stadt für alle
Der für März 2022 geplante Radstreifen am Dittrichring sorgt seit Wochen für Aufregung in der Stadt. Wir trafen uns mit Jürgen Kasek, umweltpolitischer Sprecher der Grünen Fraktion Leipzig und Rechtsanwalt, der die Entwicklung am Dittrichring seit vielen Jahren begleitet und 2018 mit der erfolgreichen Klage eines ADFC-Mitglieds einen entscheidenden Vorstoß am Oberlandesgericht in Bautzen erwirkte. Mit diesem Urteil endete eine mehr als 40-jährige Ära auf dem Promenadenring, denn seitdem darf hier wieder mit dem Rad gefahren werden. Der Ring ist frei für mehr Flächengerechtigkeit und die Möglichkeit eines neuen Normalitätsgefühls.
Anne-Katrin und Robert im Interview mit Jürgen Kasek
Hallo Jürgen, bitte gib uns doch mal einen chronologischen Überblick zur “Dittrichring-Thematik” und ordne dessen Bedeutung für die Verkehrswende in Leipzig ein.
Ich versuche die Thematik Innenstadtring kurzzufassen: Der Ring ist als Stadtautobahn angelegt worden, um den Verkehr zentral um die Kern-Innenstadt herumzuführen – die klassische Verkehrspolitik der 50er und 60er Jahre. Ganz nach dem Motto: Autofahren zuerst! Seit Ende der 90er Jahre gibt es den Grundsatzbeschluss des Stadtrates, die Verkehrsbelastung zu reduzieren und das restliche Stück Bundesstraße am Bahnhof wegzunehmen, weil der Ring die Innenstadt von den umliegenden Stadtvierteln tatsächlich abschneidet.
Seit spätestens 2009 begann mit der Novellierung der StVo die große Diskussion: Wie kann der Ring zukünftig gestaltet werden? 2011 und 2013 war die Stadtverwaltung eigentlich schon so weit, zu sagen: Wir schaffen zusätzliche Fahrradspuren. Dies wurde allerdings durch Lobbyarbeit gebremst. Die Klage eines ADFC-Leipzig-Mitglieds, die ich vor dem Oberlandesgericht in Bautzen vertreten habe, führte dazu, dass wir 2018 Recht bekamen. Das Oberlandesgericht sagte: Die Stadt geht von völlig falschen Zahlen aus, das kann keine Grundlage sein. Schließlich mussten die Radfahrverbotsschilder auf dem Ring abgebaut werden. Nochmal dreieinhalb Jahre später sind wir jetzt soweit, dass dieser Beschluss auch umgesetzt wird.
Denn die Entwicklung zu alternativer Mobilität lässt sich nicht aufhalten. Immer mehr Menschen schaffen sich heutzutage mehrere Räder an, weil – gerade in Leipzig – jed*er weiß, dass du viel schneller unterwegs bist, weniger Parkplatzprobleme hast, dem Klima was Gutes tust und unkompliziert mobil bist.
Also könnte der Ring aus deiner Sicht ein Ausgangspunkt für nachhaltige Mobilität in der Stadt sein?
Grundsätzlich ist es so, dass wir schnelle, zentrale Radverbindungen brauchen. Die Radinfrastruktur muss so angelegt werden, dass ich als Bürger*in auf mein Rad steige und sichere Radverbindungen sowie Radschnellwege nutzen kann. Anders als viele behaupten, sind die Fahrradwege am Ring einfach schlecht. Mit Abstrichen kommt der obere Dittrichring noch in Frage, aber ansonsten besteht der Ring aus Stückwerken für den Radverkehr. Am Hauptbahnhof selbst – das weiß jede*r Radfahrer*in in Leipzig – ist das Radverkehrskonzept eine Vollkatastrophe. Alle Besucher*innen, die in Leipzig ankommen, wissen nicht, dass sie sich auf einem gemeinsamen Rad- und Fußweg befinden, was automatisch zu Konfliktsituationen führt. Am Ende sind alle genervt. Nur die Autofahrenden verfügen über ausreichenden Platz am Hauptbahnhof …
Kannst du uns deutlich machen, woher der starke Gegenwind und Missmut kommt, diese wichtige Lücke am Ring zu schließen und für den Radverkehr sicher zu machen?
Der Gedankengang ist einfach zu beschreiben, denn Nutzer*innen von Autos sagen sich: Ich muss schnell von A nach B kommen. Schnell bin ich nur dann, wenn ich ausreichend Platz habe und die Straßen frei sind. So entsteht ein Fehlschluss, dass mehr Straßen auch automatisch zu mehr Schnelligkeit führen, weil sich der Autoverkehr mehr verteilt. Also denken sich Autofahrer*innen im Umkehrschluss auch: Weniger Platz bedeutet langsamerer Autoverkehr. Verkehrswissenschaftlich völliger Unsinn. Das besagt auch die TU Dresden, die dazu geforscht hat. Umso mehr Straßen es gibt, umso größer wird auch der Verkehr. Der bestehende Verkehr verteilt sich nicht anders. Die Stadt baut lediglich eine Infrastruktur auf, die auch mehr genutzt wird. Die Angst ist, dass mit einem Radstreifen auf dem Dittrichring mehr Staus kommen, weil es nicht weniger Autos werden. Alle Maßnahmen, die an einer Stelle etwas verbessern, führen natürlich auch dazu, dass sich an anderer Stelle Dinge verschlechtern. Aber es geht vielmehr darum, die Menschen zu motivieren und zu sagen: Fahrradfahren ist super, der ÖPNV ist gut vertaktet, bezahlbar – übrigens noch immer ein Problem in Leipzig - die Fußwege sind intakt und wir haben Carsharing-Angebote. Du kannst dich für das Auto entscheiden – was auch völlig in Ordnung ist, das soll jeder Person freigestellt sein – aber du musst es eben nicht. In der Innenstadt sollten die Verkehrsarten des Umweltverbundes Vorrang haben. Die Angst entspringt einem klassischen autozentrierten Denken.
Der Dittrichring ist also nur ein Anfang, oder?
Eigentlich gibt es seit 2012 das “Handlungskonzept Radverkehr” zur Förderung des Radverkehrs der Stadt Leipzig, das jetzt auch neu fortgeschrieben wurde. Wir bräuchten noch weitere, viel stärkere und direkt-tangentiale Verbindungen aus allen Himmelsrichtungen. Dass man zum Beispiel vom Norden in den Osten über eine zentrale Radverbindung kommt, die schnell passiert werden kann und bei der man auf wenige Autos trifft. An der konkreten Stelle Innenstadtring müssen wir einfach weitermachen. Wir müssen in kurzer Zeit genau diese Vorhaben in Angriff nehmen.
Es gibt daher viele Wege, um die Menschen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen und zu motivieren. Durch Verbote passiert das natürlich auf die schlechteste Weise. Durch Anreize und Angebote ermöglicht man den Menschen vielleicht eine neue Sichtweise und zeigt ihnen, dass eben kein Chaos am Ring ausbricht und somit hoffentlich ein neues Normalitätsgefühl und eine stärkere Akzeptanz unter den Verkehrsteilnehmenden entsteht. Es ist eine zentrale Veränderung, zu der jede*r auch eine Meinung hat. Veränderungen machen Angst, aber die Chance wird nicht gesehen. Was wir alle wollen: Umso weniger Autos tatsächlich auf dem Ring fahren, umso eher kommen diejenigen, die zwingend auf ein Auto angewiesen sind, wie Rettungsdienste, Handwerker*innen, Lieferdienste oder Menschen mit Benachteiligung, an. Alle anderen orientieren sich vielleicht in Richtung Alternativen um. Da müssen wir hinkommen.
Vielen Dank.